Mit dem folgenden Text biege ich die thematischen Regeln der Seite wieder ein bißchen, denn es geht darin eher um analoges Retro. Auf der anderen Seite definiert sich das digitale Retro irgendwie auch in seiner Abgrenzung zum analogen Retro. Außerdem kann man den Text auch als Betrachtung zum Schicksal von „Dingen“ sehen, die es (bisher?) nicht geschafft haben, auf den populären Retro-Lifestyle-Zug aufzuspringen. Der folgende Beitrag ist ca. drei Jahre alt und die darin erwähnte Videothek hat mittlerweile geschlossen, auch die Stadtbücherei hat ihren analogen Bestand sehr stark verringert. Dies aber nur am Rande, denn die eigentliche Aussage des Textes bleibt davon unberührt.

Eine Sache, deren Grund mir nicht ersichtlich ist: warum wurden die VHS-Kassette und der Videorekorder derart umfangreich völlig vom Markt und auch aus dem Interesse der Öffentlichkeit verdrängt? Es war ein System, dass ja deutlich über 20 Jahre lang auf dem Massenmarkt vertreten und in all der Zeit völlig ausreichend war, bis es nach einer digitalen (Werbe-?) Revolution plötzlich zum obsoleten „Schrott“ oder gar zum „Sondermüll“ (Zitat Filmzeitschrift Cinema) erklärt wurde.

Schaut man zum Beispiel in Filmzeitschriften, dann liest man dort, dass man den echten Cineasten doch nur an seiner hochwertigen DVD-Sammlung erkennt. Was aber ist mit Cineasten mit einer hochwertigen VHS-Sammlung, welche ihre Schätze nicht digitalisieren und dann die alten „Medien“ der Filme auf den analogen Müll werfen wollen? Ich weiß gar nicht, ob es noch welche gibt – in der Öffentlichkeit zumindest nicht mehr. So habe ich z.B. im Web keine einzige Webseite gefunden, die sich positiv mit der VHS auch als erhaltenswertes Zeitdokument beschäftigt (gibt es welche?).

Die Zeit des Plattenspielers ist eigentlich schon „länger“ abgelaufen, als die des VHS-Rekorders – und trotzdem findet man in Geschäften noch deutlich mehr Plattenspieler zum Verkauf, als Videorekorder. Scheinbar war die digitale Revolution im Bezug auf die Entfernung der VHS aus der öffentlichen Meinung weit effizienter und erfolgreicher. Sich Platten anzuhören gilt weiterhin als stilvoll im Lifestyle-Bereich, sich VHS anzusehen gilt jedoch mittlerweile als völlig veraltet und sinnbefreit. Wieso?

Was mich auf das Thema gebracht hat, war eine Beobachtung in der Stadtbücherei vor einigen Tagen. Dort gibt es eine recht große Auswahl an VHS, die über Jahre angesammelt worden sind. Da die finanziellen Mittel begrenzt sind, wird der VHS-Bestand auch weiterhin deutlich größer sein, als der  Bestand an aktuellen DVDs. So haben wir insgesamt 4 Regale mit deutschen VHS und eine lange Regalwand mit englischen OV-VHS. Natürlich jede Menge Filme mit Stil jenseits des Mainstreams. Das DVD-Regal nimmt sich dazu im Vergleich bisher noch recht schmal aus.

Aber was kann man beobachten: die Leute drängen sich zum DVD-Regal, der erste Schritt fast jedes ankommenden Ausleihers führt dorthin. Kinder laufen unter „Krass, DVD“-Rufen ohnehin nur dorthin. In den VHS-Regalen bleiben fast alle Filme stehen und setzen Staub an, kaum jemand leiht dort mehr aus (zumindest nach meinen Beobachtungen, auch was die große Zahl der nun ständig vorhandenen Filmen betrifft). Wenn man dann einen Blick auf die „Scheibchen“ wirft, sind diese inhaltlich meist uninteressanter als viele der unbeachteten Kassetten im VHS-Bereich – natürlich nur meiner bescheidenen Meinung nach.

Die zweite Beobachtung betrifft mal wieder unsere lokale Videothek. Seit einigen Wochen werden jetzt alle VHS zum Stückpreis von je EUR 1,- verkauft, um Platz für all die DVD-Blockbuster zu schaffen. Ich habe mich umfangreich dort bedient, u.A. „Apocalypse Now“ in der 1983er-VHS-Fassung (funktioniert noch immer problemlos, stabile, schwere Kassette in VHS/Betamax/V2000-Standardhülle :-)) Da fragt man sich aber schon wieder, warum man dort Filme wie „Apocalypse Now“ und andere Perlen preislich gesehen jetzt in die gleiche Wühlkiste wirft, wie „Bikini Party Summer VII“ und Co.

Es muss wohl am Medium liegen, dass niemand mehr will. Die Natur und Qualität der Filme darauf ist Nebensache. In einer Zeit, in der alles nur in einen digitalen Riesenpool geworfen wird und als Schnipsel seiner Identität als filmisches Dokument beraubt wird, wohl normale Prozedur. Nebenbei trifft das Schicksal ja auch schon DVDs – so findet man Filme wie 2001 oder Citizen Kane ebenfalls in manchen Supermarkt-Wühlkisten neben Aerobic-Scheibchen. Und bin ich denn der einzige, den dieser Umgang mit Kultur  (sei sie nun analog oder digital „verpackt“) äußerst stört?

Mir persönlich gefällt hier auch diese „selbstverständliche Gleichmacherei“ nicht wirklich. Da gibt es nun Kassetten von 1982 bis 2004, von einer halben Stunde Lauflänge bis 3 Stunden, von lustigen Kindercartoons und unbekannten B-Filmchen bis hin zu preisgekrönten Werken, die in so mancher Favoritenliste auf den ersten Plätzen stehen. Und trotzdem wird alles für je einen Euro aus dem Lager „geschaufelt“ und verramscht. Da sollte man zwar einerseits froh sein, Klasse für wenig Geld zu bekommen, andererseits zeigt es aber wenig Respekt gegenüber der Individualität eines Filmes.

Die eigentliche Pointe kommt ja noch: die Videothek versucht dieses Angebot mit dem Ein-Euro-Preis nun seit Wochen – nur vermutlich scheint außer mir niemand mehr die Kassetten haben zu wollen, wie sich an dem fast gleichbleibenden Bestand zeigt. So werden viele Filme davon wohl im Endeffekt auf der Müllkippe landen.

Und wie oben gesagt: ich verstehe den Grund dafür nicht. Warum will diese Filme niemand mehr? Weil sie nicht digital durchgefiltert und in Bild und Ton überarbeitet sind? Erinnert mich an einen herablassenden Satz, den ich neulich mal in einem Schnickschnackforum gelesen hatte: „Wer sich heutzutage noch Filme mit Stereoton anschaut, dem ist echt nicht mehr zu helfen…“ – oder so ähnlich. Was soll man dazu bzw. dagegen noch sagen?

Natürlich lässt die optische Qualität der VHS-Filme mit den Jahren nach, auch wenn viele meiner Bänder aus den 80ern noch problemlos laufen. Vielleicht gehört dieses Nachlassen aber auch mit zu einem Alterungsprozess, der den Filmen eine eigene Note gibt. Digitales Material bleibt immer gleich und für viele Leute auch immer gleich beliebig und verfügbar. Material auf Band verändert seine Art und das sicher nicht immer zum Positiven. Vielleicht tragen aber manche der Schwächen eines älteren Bandes auch mit zum Stil eines Filmes bei bzw. unterstreichen dessen Note als Dokument einer früheren Zeit.

Digital bereinigte Hochglanzbilder mit Superduperton und Features aller Art tun das IMO nicht. So gesehen kann eine Kassette, die vielleicht nach über 20 Jahren noch immer ihre ursprüngliche Aufgabe erfüllen kann, in mehrerlei Hinsicht ein interessantes Stück Medium sein: als ein Beispiel für eine gewisse Vergänglichkeit des Mediums, darüber hinaus auch als ein Beispiel für eine durchaus eigenständige Wirkung als Zeitdokument, als ein konkret greifbares Objekt „Film“ mit soundsoviel Zentimeter Kantenlänge und als Beispiel für Zurückhaltung und Reduzierung auf das Wesentliche.

Und das ist in einer Zeit von Gigabyte-Datenmassen und Webseiten mit Abertausenden beliebig abrufbarer Filme und Videoschnipsel vielleicht mit der wichtigste Faktor.

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Von Chris Pfeiler

on allen Retro-Schreibern bin ich wohl derjenige, der das Thema am Persönlichsten vertritt. Ich habe privat keinen digitalen Lifestyle im modernen Stil, also kein Handy, iKram oder aktuelle Rechner. Viele Leute finden das zum Haareraufen und würden mich gerne „missionieren“, ich finde aber, daß einem ein sog. veraltet-analoger Lebensstil viele Ideen und Perspektiven vermitteln kann.

5 Gedanken zu „Analoges Retro – kleine Ode an die VHS-Kassette“
  1. Sehr schön geschrieben.
    Ich selbst finde es traurig, dass die VHS immer schlechtgeredet wird. Dabei hat sie uns doch jahrelang treue Dienste erwiesen. Habe mir erst vor einem Monat nen neuen Videorekorder geholt.
    Letztenendes hält die VHS sogar länger als die DVD. (besonders gebrannte DVDs) Außerdem gibt es noch richtige Raritäten, die nicht auf DVD erhältlich sind.
    Mir ist auch noch kein Forum im Netz aufgefallen in der es um VHS geht – abgesehen von der Digitalisierung von Kassetten.
    Für das ältere Videomedium Super 8 gibt es dagegen mehrere Foren.

  2. Freut mich, daß dir der Text gefallen hat. Sonst mache ich ja öfter die Erfahrung, daß man sich mit „analogen“ Texten in der heutigen Zeit nicht mehr allzu beliebt macht.
    Aber ist schon interessant, daß die einzig legitime Beschäftigung mit den Bändern eben nur noch die Frage zu sein scheint, wie man sie am besten digitalisieren und damit ihrer analogen Natur berauben kann. Und das, wo eine qualitativ gute VHS durchaus einige Jahrzehnte überdauern kann und als „Objekt“ eben doch auch eine Form von Zeitdokument ist, mitsamt ihren eigenen Fehlern, kuriosen Trailern, Hüllen und sonstwas. Und das soll alles nur noch zum digitalisieren und wegwerfen da sein? Das ist eine Mentalität, die ich niemals verstehen werde und die auch zu einem guten Teil zu meiner persönlichen Ablehnung des Zeitgeistes im 21. Jahrhundert beiträgt.
    Ich werde in den nächsten Wochen wohl auch mal wieder den ohnehin wenig genutzen DVD-Player in den Schrank stellen und mich etwas durch meine große VHS-Sammlung wühlen.

  3. Wenn ich 2001 in der Wühlkiste neben Aerobic Filmen sehe, ja, dann kann ich mich durchaus auch an diesem „Umgang mit Kultur“ stören. Daran ist aber nicht die Videothek schuld, sondern die Leute, die nicht bereit sind, mehr Geld für Klassiker auszugeben.

    Meine Sympathie für VHS hält sich allerdings in *SEHR* engen Grenzen. Das fängt schon damit an, daß sich unter allen Videoformaten (VHS, BetaMax und Video2000) ausgerechnet das technisch schlechteste und minderwertigste Format durchgesetzt hat, nämlich eben VHS.

    Während ich den letzten Artikel über alte PCs und den Umgang mit ihnen sehr gut nachempfinden konnte, weine ich der VHS Kasette keine Träne nach. Letztendlich ist *JEDER* Film, der *NUR* auf VHS existiert, dem Untergang geweiht. Da kann nur die Digitalisierung helfen, dem Zahn der Zeit Einhalt zu gebieten, der an analogem Material (sowohl an Magnetbändern als auch an Filmmaterial) gnadenlos knabbert. Klar, eine gebrannte DVD kann irgendwann ihren Geist aufgeben. Aber man kann digitale Daten ja auch auf Medienserver kopieren, Backups auf externen Festplatten machen, etc.

    Bei digitalen Daten besteht zumindest die theoretische Chance, durch regelmäßige Backups und das Überführen in neue digitale Formate solche Filme für die Ewigkeit nahezu ohne Qualitätsverlust zu erhalten. Bei analogen Medien hingegen ist der zeitliche Qualitätsverlust genauso systemimmanent wie der Qualitätsverlust beim kopieren, absolut unvermeidlich.

  4. mag sein, dass „2001“ in der grabbelkiste störend ist oder von mangelndem respekt zeugt.

    auf der anderen seite ist „2001“ im 4:3-format mit vhs-typischen ausblutenden farben nicht gerade der respektabelste rahmen für diesen film.

    ich bin auch mit vhs aufgewachsen und verstehe zumindest den nostalgischen background dieses artikels. aber ich habe, ehrlich gesagt, kein wirkliches argument /für/ die vhs darin gefunden, das über bloße nostalgie hinausgeht.

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