Beispiel 3: Etikettenschwindel. Frage: Ein Journalist erhält ein kostenloses Rezensionsexemplar – was ist das Schlimmste, was er nun tun kann? Richtig: es nicht lesen und dann noch geschickt so tun, als ob er es gelesen hätte und es sich bei dem Artikel, den er geschrieben hat, deshalb um eine echte, faire Rezension handelt. Diesen Eindruck gewann ich bei der Lektüre eines Computer-Bild-Beitrages zum Buch „Volkscomputer“. [LINK>607] Wie ich darauf komme? Punkt 1: Das einleitende Zitat stammt aus dem Einband und ist, nun ja, beliebig. Punkt 2: Wichtige Zeitpunkte und Meilensteine stellen Allgemeinwissen für die Zielgruppe des Buchs dar oder bleiben unpräzise bzw. gewagt („Dieser Prozessor [6502, Anm.], beziehungsweise dessen spätere Inkarnationen, trieben den VC-20, den C64 oder auch das Nintendo Entertainment System (NES) an.“). Punkt 3: Die darauf folgenden Buchinfos klingen wie der Pressetext zum Buch („In seinem Buch „Volkscomputer – Aufstieg und Fall des Computer-Pioniers Commodore und die Geburt der PC-Industrie“ beleuchtet Autor Brian Bagnall die Geschichte des Computer-Pioniers Commodore“) Punkt 4: Damit es nicht ganz so stark nach einfacher Kopie der Pressemitteilung klingt, wird durch das Einflechten von Lokalkolorit für vermeintliche Individualität gesorgt – etwas oberflächlich, aber ausreichend, weil beim Überfliegen in der Kaffeepause nicht weiter auffällig („Für die deutsche Ausgabe des gelungenen Nachschlagewerks steuerten Commodore-Experte Boris Kretzinger und Videospiel-Urgestein Winnie Forster technische Details, Fotos sowie Personen-, Firmen- und Spiele-Indizes bei“). Punkt 5: Individuelle Auseinandersetzungen mit dem Werk, so wie in tonangebenden Magazinen großer Häuser beispielsweise, sucht man vergeblich, obwohl gerade dieses Buch viele Besonderheiten aufweist und es dem Leser vergleichsweise leicht macht (siehe eigene Rezension in dieser RETRO). Aber vielleicht ist ja auch die mitten in den Text geflanschte Klickstrecke mit den 17 Bildern wieder mal viel wichtiger? Auch wenn die Bilderserie mit dem Buch so gar nix zu tun hat, denn sie heißt „Die Anfänge von Nintendo, PC & Co.“ und zeigt nicht wirklich zum Buch gehörende Systeme, garniert mit sagenhaft banalen Bildunterschriften wie „Das Mega Drive war Segas erfolgreichste Spielekonsole“. Macht ja nix, denn solange sich die Userkommentare auf ein freudiges „So ein X [hier bitte das X gegen das eigene Lieblingssystem austauschen, Anm.] hatte ich auch“ beschränken, muß man ja keine bösen Worte fürchten. Außer von Hardcore-C64-Fans berüchtigter Special-Interest-Magazine, die sich in ihrer Kolumne grinsend über die Stumpfsinnigkeiten ahnungsloser Kollegen hermachen. Und wen stören die schon?
So, war das jetzt schlimm genug? Gut. Schlimmer als die Texte an sich finde ich nur, daß die Recherche für diese drei Beispiele ungefähr schlappe fünf Minuten Zeit in Anspruch nahm und jeden Monat erfolgreich wiederholt werden kann. Der C64 muß viel erdulden, wenn er von großen Redaktionen ins Visier genommen wird. Da wird gezerrt, geschüttelt und gerührt, bis zum Schluß nichts Gutes rauskommt. Verdient hat er das nicht. Beenden wir das Ganze deshalb ausnahmsweise einmal mit einer ordentlichen Portion Eigenlob: Wie schön, daß es deshalb die RETRO gibt. Und wenn es zur Ehrenrettung des erfolgreichen Computersystems der Welt ist.

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Von Stephan Humer

Mitbegründer und -herausgeber von Magazin und Website. Und das, ohne das Label „Generation C64″ wie eine Monstranz vor sich her zu tragen. Mag es, über die Grenzen der Chips hinauszuschauen.

Ein Gedanke zu „Pressespiegel (21/2)“
  1. Na ja, Leute, die sich aus „Computer-Bild“ über Computer informieren, sollten sich dort am besten auch über Computer-Bücher informieren. Dem Verkauf des Buches wird es nicht schaden und so manche Konsalik- und Reader’s-Digest-Roman-Sammlung wird unverhofften Zuwachs bekommen.

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