Dieser Tage erhielt ich von Autor Christian Heller eine signierte Ausgabe seines Buches „Post Privacy„. Kurz gesagt geht es in dem Buch positiv gestimmt darum, wie das 21. Jahrhundert Welt und Mentalitäten grundlegend verändert hat und warum der Begriff des „Privaten“ altmodisch oder gar obsolet geworden ist, wo doch nun alles von einer digitalen Transparenz und Datenverfügbarkeit durchdrungen ist, mit der man sich letztendlich nur arrangieren kann.

Das Buch ist sehr schön und eloquent geschrieben und argumentiert, vertritt aber natürlich eine Philosophie, die absolut nicht die meine ist. Und des einen Utopie ist des anderen Dystopie. Aber sei es drum, das würde nun im Detail zu weit führen. Nur ganz kurz ein paar Gedanken:

Beim Lesen hatte ich den Eindruck, daß Christian Heller zumindest eine für mich sehr relevante Definition des Privaten übersehen hat. Das mag auch daran liegen, daß es eine leider viel zu selten praktizierte Definition ist bzw. daß sie quasi automatisch aus dem Raster herausfällt, auf daß er seine gesamte Argumentation begründet. Ich meine die Definition des Privaten als den Raum, in dem der Zeitgeist keinen Einfluß auf das Individuum haben muß. Die Definition des Privaten als dem Raum, in dem es eigentlich egal ist, welche Jahreszahl im öffentlichen Raum auf dem Kalenderblatt steht. Das ist es, was ich salopper mit der Bezeichnung meines Wohnraumes als einem vom 21. Jahrhundert befreiten Gebiet meine. Seit mein Filmkonsum wieder 100% analog geworden ist, gibt es in meinen vier Wänden aber wirklich kein Gerät mehr, daß dem 21. Jahrhundert zuzurechnen wäre.

Außerhalb des Privaten gibt es diese Möglichkeiten nicht oder nur stark eingeschränkt. Ich kann im öffentlichen Büro nicht sagen „Sorry, Chef, ich fasse den XP-Rechner nicht an. Die Aufgabe lässt sich doch soviel interessanter auf einem 386er unter DOS lösen“ (auch wenn dies häufig durchaus der Wahrheit entsprechen würde). Im privaten Raum ist das aber ohne Probleme möglich. Man kann den Zeitgeist einfach vor der Tür stehen lassen. Man kann einen Kalender von 1974 an die Wand hängen, und sich auch das Umfeld entsprechend zum privaten Kalenderdatum gestalten. Groovy, man. Und wenn man sich die Ausrüstung und auch das medial-analoge Rüstzeug dafür z.B. auf Flohmärkten besorgt, dann hat auch das Netz weiterhin größere Schwierigkeiten, mitzuprotokollieren, welche private Zeit bei einem daheim herrscht. Für Retrokommerz und Kommerzretro online gilt das natürlich nicht, hier fiele man schnell in ein marketingorientiertes Raster als emotional-nostalgisch geprägter Kunde. Aber davon spreche ich nicht.

Die Macht des Netzes hat (noch) gewisse Grenzen und gerade, wenn sich die Zeit im privaten Raum von der Zeit im öffentlichen Raum auf konsequente Weise unterscheidet, laufen Netz und Post Privacy an der Zeitschleuse bzw. der Türschwelle gegen eine Wand. Dafür muß im privaten Raum noch nicht mal das Jahr 1974 sein. Selbst die Verwendung von 16-Bit-Technologie aus den 90ern tritt als Störfaktor für die Moderne auf, weil viele Mechanismen dann nicht greifen können und so manch digitale Verlockung ins Leere tritt. Die Macht der Moderne liegt in der Masse von Daten und 640 Kilobyte sind zum Glück keine Masse ;-).

Irgendwie hat mich das Lesen von Christian Hellers Buch auch wieder darauf gebracht, daß man ein Buch bräuchte, daß den Zeitgeist aus einer gänzlich anderen Richtung betrachtet. Ich hatte das ja schon vor einer Weile mit dem einfallslosen Arbeitstitel „The 21st Century Delusion“ inhaltlich kurz umschrieben. Vielleicht war der inhaltliche Rahmen dazu auch etwas zu grob gefasst, prinzipiell wäre die für thematische Verzweigungen interessantere Argumentationslinie vielleicht wirklich jene, daß der Begriff des Privaten auch über die private Zeitsicht und Weltsicht zu definieren wäre.

Es ist ja IMO eine der großen Vorschriften des 21. Jahrhunderts, daß hier eigentlich kein Unterschied existieren darf und eine Durchdringung von allem durch Moderne und digitale Revolution das zulässige Verhalten und die „Realität“ darstellen. Und auch die kritischen Bücher (die Christian Heller als Gegenpol zu seinem Buch aufführt) gehen wohl eher in die Richtung, daß sich der geneigte Leser zwar dezent über Datenkraken und Pisa-Kinder online amüsieren darf, die Notwendigkeit seiner BluRay-Schrankwand und seiner QuadCore-Prozessoren aber auch keinesfalls in Frage stellen soll. Und sollte sich ein Buch in der Argumentation zu weit wagen, wären sicher schnell Titulierungen wie „angestaubt“ und „reaktionär“ zur Hand. Ein solches Buch hätte es also schwer.

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Von Chris Pfeiler

on allen Retro-Schreibern bin ich wohl derjenige, der das Thema am Persönlichsten vertritt. Ich habe privat keinen digitalen Lifestyle im modernen Stil, also kein Handy, iKram oder aktuelle Rechner. Viele Leute finden das zum Haareraufen und würden mich gerne „missionieren“, ich finde aber, daß einem ein sog. veraltet-analoger Lebensstil viele Ideen und Perspektiven vermitteln kann.

Ein Gedanke zu „Zeitgeist Privacy“
  1. Ist der Autor des Buches so einer von dieser „Datenschutzkritischen Spackeria“? So flach der Spruch auch ist, aber ich persönlich finde ja: Bei denen ist der Name Programm ;-) Ich kann über diese „Philosophie“ einfach nur den Kopf schütteln.

    Ansonsten, ich finde die Aufgabe eines guten Buches über Privacy sollte es nicht sein, moderne Technik zu kritisieren, sondern den korrekten Umgang mit dieser zu lehren. Sobald die Hardware einen Internet Anschluß hat, gelten für alle die gleichen Regeln, vom 386SX bis zum QuadCore. Wenn überhaupt, dann ist man mit einer Browserkennung wie „Netscape running on Windows 3.11“ vermutlich weitaus eindeutiger identifizierbar als mit „Firefox running on Windows 7“ ;-)

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