Im Altenheim gibts ja angeblich spezielle Zimmer für Demenzkranke, die genauso eingerichtet werden, wie die Oldies das in ihrer Jugend gut fanden, also mit Nierentisch und Peter-Kraus-Poster an der Wand et cetera. Wenn man die Alten da reinsetzt, werden sie angeblich ganz ruhig und happy, weil sie sich wieder zuhause fühlen.

Wir haben uns auch so ein Demenzzimmer eingerichtet, nur bei uns heißt es Büro.

Die Idee kam natürlich vom Beifahrer, und auch wenn er es hartnäckig abstreitet, ist seine Tochter an allem schuld. Denn ungefähr ein Monat, nachdem sie geboren wurde und der liebe Papi sich nächtelang mit vollgeschissenen Windeln beschäftigen musste, fing er plötzlich an, davon zu faseln, dass man als seriöser „Wissensarbeiter“ doch „feste Strukturen“ bräuchte und diese Arbeit im „Home Office“ nicht so der wahre Jakob sei. Übersetzt bedeutete das, frei nach Purple Schulz: Ich. Will. Hier. Raus.

Die Idee war natürlich erst mal gut und verlangte nach einem großen Plan. Wenn wir uns schon einen Panic Room einrichten würden, dann aber auch richtig, das war klar. „Wir gehen nach dem Lisa-Prinzip vor“, hatte Nick sofort als Devise ausgegeben. Auf seine verschwurbelt-unverständliche Art wollte er damit sagen, dass in unserem kleinen Nerd-Paradies die Zeitrechnung 1995 enden sollte. Kein Rechner in unserem Büro durfte jüngeren Jahrgangs sein, forderte der Yesterday-Man.

Lisa-Prinzip deshalb, weil man beim Apple Lisa ja auch kein Datum einstellen konnte, das jenseits von 1995 liegt, also in der damals unvorstellbar weit entfernten Zukunft. Eine spätere Jahreszahl akzeptierte die Kiste einfach nicht, weil die Programmierer nur vier Bit für den Zähler reserviert hatten. Deshalb sprang nach Silvester 1995 die Zeit wieder auf 1980 um. Eigentlich eine coole Idee für noch so einen Murmeltiertagfilm, „Lisa, der helle Wahnsinn II“ oder was weiß ich. Meinen Einwand, ob es nicht ein bisschen gestrig sei, nur Elektroschrott ins Büro zu stellen, wollte er natürlich nicht gelten lassen.

„Wenn du willst, dass etwas vernünftig funktioniert, musst du in der Vergangenheit leben.“ Das waren seine Worte.

So hundertprozentig konnten wir das Lisa-Prinzip am Schluss natürlich nicht durchhalten, das schien dem Beifahrer aber auch egal zu sein. Es ging im Grunde genommen nur darum, ein Arbeitszimmer von der Steuer absetzen zu können – und Steuertricksen ist sein Lieblingssport, seit wir bei der Datacorp arbeiten und nicht mehr bestreiten, „Erwachsene“ zu sein.

Seufzend schließt Nick die schwere, knallblau gestrichene Stahltür auf.

„Ah, home, sweet home.“

Aufgeschlagen hat er unser persönliches Flüchtlingslager schließlich um die Ecke im Gewerbegebiet, im ausrangierten Lagerraum einer ziemlich dubiosen Schwimmbadfirma. Da hat er die letzten Monate fast nonstop rumgehangen, was man allein daran merken kann, wie zielsicher er im Dunkeln mit dem Fuß die Steckerleiste trifft, an der das ganze Stromnetz hängt.

„Power up“, flüstert Nick.

Junge, er hat es sich wirklich gemütlich gemacht, da merkt man echt den erfahrenen Häuslebauer. Oder Höhlenmenschen. An der Decke baumelt eine einsame 20-Watt-Birne, die gerade mal ausreicht, um den Tapeziertisch, der in der Mitte des Kabuffs aufgestellt ist, auszuleuchten. Der Rest des Lochs verschwindet in braunem Zwielicht.

Von seinen gesammelten IT-Schätzen, die er in Zehn-Euro-Baumarktregalen eingelagert hat, lassen sich nur geheimnisvolle Umrisse erahnen. Es ist ein Brei aus beigefarbenem Plastik, Netzteilen und Kabeln. Zu den wenigen Sachen, die man sofort erkennt, gehört ein Stapel 1541-Laufwerke für den Commodore 64. Im Fach daneben parkt unser geliebter GRiD Compass aus dem Nachlass von Charles Irving – Gott hab ihn selig. Wir haben letztens rausgefunden, dass der Über-Nerd vom „Trio mit vier Fäusten“ auch so einen benutzt hat. Ganz oben unter der Decke, quasi als Krönung des Ganzen, lagert Nicks obskurer Laptop-Schrott aus Japan, von weltbekannten Firmen wie Ampere Inc.

Der liebe Papi hat wirklich alle seine Juwelen hergeschafft, die er zuhause auf Befehl von Sabina im Keller verstecken musste. Und so riecht es auch – nach diesem Wasserschaden-Muff, der auch über Börsen für klassische Computer hängt.

Mit einem schweren Krachen fällt die Tür ins Schloss. Auf ihrer Innenseite hat der Beifahrer das „Aladdin Sane“-Poster mit Bowie aus seinem alten Jugendzimmer angebracht. Wenn schon retro, dann richtig. Ich kann quasi noch hören, wie ihn seine Mutter zum Essen ruft.

Nick wischt mit dem Ärmel seiner Multifunktions-Jacke kurz über den Tapeziertisch, schiebt ein paar unvermeidliche Arduino-Platinen zur Seite und macht mit der Hand eine Platzanweiserbewegung zu mir rüber.

Ich stelle die Tüte mit dem Tape ab und rolle sie vorsichtig aus. Was ist, wenn von dem Blut auch was an die Tüte gekommen ist? Mal kurz die Hände checken. Nein, Gott sei Dank keine rostrote Schmiere drauf. Ich taste mich zur Kassette in der Tüte vor und ziehe sie raus. Sie liegt überraschend schwer in der Hand, wie ein solides Industrie-Produkt, viel massiver als die klapprigen Musikkassetten, auf denen wir unsere ersten Spiele für den Cevi gespeichert hatten. Mein Gott, wie bierernst wurde diese Diskussion auf dem Schulhof geführt: Ist jetzt Chrom besser oder Normalkassette?

Nick klappt routiniert den vorderen Rand der Kassettenhülle hoch, holt das Tape raus und rückt es im rechten Winkel zur Tischkante zurecht. Es ist ungefähr so groß wie zwei Kompaktkassetten hintereinandergelegt. Jetzt kann man auch erkennen, warum es so schwer ist: Die Unterseite besteht aus einer dicken Metallplatte, auf der zwei Bandspulen befestigt sind. Sie sehen genauso aus wie bei den Bandmaschinen, die früher in Tonstudios standen. Gab es nicht auch mal Kompaktkassetten, die als Gag solche Spulen hatten? Doch, auf so eine hatte mir Nick die Maxi von „Axel F.“ aufgenommen.

Vorne schlängelt sich das Band an einem kleinen Plastikfensterchen vorbei. Nick hebt die Klappe kurz an, um sie mit einem lauten Klacken gleich wieder zuschnappen zu lassen. Die Bewegung soll sagen: Über die Details brauchen wir kein Wort zu verlieren, oder?

Vor uns liegt eine Quarter-Inch-Cartridge, eine Speicherkassette, mit der die Firmen in den Siebzigern und frühen Achtzigern ihre fetten Back-ups gemacht haben – oder besser gesagt: ihre für damalige Verhältnisse fetten Back-ups. Denn die 90 Meter Band in der massiven Kassette reichen gerade mal, um lächerliche 204 Kilobyte zu speichern. Jedes Bildchen im Netz von Cheerleadern, die unter Alkoholeinfluss lesbische Experimente starten, braucht heute mehr Platz.

Für mich sieht das Tape brauchbar aus.

„Ist okay, oder?“, taste ich mich vor.

Doch Nick runzelt die Stirn. Mit einer derart oberflächlichen Analyse kann sich der Fast-Informatiker natürlich nicht zufrieden geben, zumal er mir dann hätte recht geben müssen, was er aus Prinzip nicht tut.

„Weiß nicht.“

Nick zieht eine Lupe mit eingebauter Neonröhre rüber, die am Rand des Tischs klemmt, und knipst sie an. Im blassen Licht dreht er die Cartridge vorsichtig hin und her, so, als würde er eine Leiche nach subtilen Hinweisen auf die wahre Todesursache absuchen. Wie immer, wenn er sich viel Zeit für eine Nebensächlichkeit lässt, gibt es eine einfache Erklärung dafür: Er spielt insgeheim eine Filmszene nach. Nur welche? „CSI“ vielleicht, oder „Quincy“? Nein … Genau! Er seziert die Cartridge genauso wie Ash den Face-Hugger in „Alien“. Als Eingeweide für den außerirdischen Krabbler hatten die Special-Effects-Typen ja nur rohe Austern und Reste vom Fischmarkt verwendet, trotzdem ein cooler Effekt.

Zieht er das ganze Theater wirklich nur durch, um das Autopsie-Klischee voll auszukosten? Nein, dafür nimmt er sich zu viel Zeit, es muss noch ein dickes Ende kommen …

„Guck mal, am Umlenkbolzen!“, verkündet Nick stolz. Und da ist es schon, das dicke Ende.

Er berührt mit dem Finger einen der silbernen Stifte, um die sich das Band in der Kassette herumschlängelt. Und wirklich: Da klebt ein bisschen dunkelgelbe Schmiere, die wie Honig aussieht. Nick schaut mich an. Als Audio-Nerd a. D. weiß ich natürlich, wie die Diagnose lauten muss: Leimspuren.

Mit dem Problem hatten wir schon ein paar Mal zu tun. Wenn so ein olles Magnetband aus den Siebzigern nämlich feucht wird, kann es sein, dass die Schicht kaputtgeht, mit der die Oxydpartikel an das eigentliche Band geklebt sind. Irgendwann kleckert der Kleber dann raus, sammelt sich an den Spulen, bis das Band sich nicht mehr bewegt oder beim Abspielen reißt.

Es ist Zeit für mich, das Offensichtliche vorzuschlagen.

„Dörte?“

Der Beifahrer dreht nochmal vorsichtig an der Spule und nickt.

„Ein Fall für Dörte.“

Diesen wahnsinnig originellen Namen haben wir unserer treuen Schweizer Dörrmaschine gegeben. Mit der lassen sich solche Bänder nämlich retten, der Trick heißt in Tonstudios Baking: einfach das Tape ein bis zwei Stunden bei 50 Grad in so ein Dörrgerät werfen, mit dem man sonst Zeugs wie getrocknete Bananenchips macht – und schon schnurrt das Band wieder locker durch, zumindest ein Mal. Zum Datenauslesen reicht das normalerweise.

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Von RETRO