Ein älterer Beitrag, den ich bereits im Forum präsentiert hatte, der aber vielleicht auch hier generell noch Interesse finden könnte. Das Buchprojekt ist vermutlich illusorisch (wer sollte es kaufen?), aber als Gedankensammlung bzw. Anregung kann es doch hilfreich sein. Das ist nun teilweise sicher etwas überzogen und einseitig, aber ich stelle es einfach mal zur Diskussion.

Nun überlege ich ja schon seit einer Weile an einem größeren Projekt zu einem zeitgeistkritischen Buch herum. Bisher läuft das Ganze unter dem wenig einfallsreichen Arbeitstitel „The 21st Century Delusion“. Hier einige eher unsortierte Gedanken zu der Form eines solchen Buches.

Als einleitenden Satz würde ich vielleicht gerne ein Star-Wars-Zitat verwenden, daß die Eigenschaften des modernen Zeitgeistes und seine Gefahren IMO irgendwie treffend beschreibt – nämlich Yodas „Hast einmal du beschritten diesen Weg, für immer wird davon bestimmt dein Leben…“ Das Ganze dann als Überleitung zu einem einleitenden Kapitel, in dem beschrieben wird, warum man das 21. Jahrhundert nicht „zur Tür reinlassen“ muß, wenn man nicht will. Warum indoktrinierter Zeitgeist der Moderne nicht gleich Fortschritt ist, daß ein alternativer Lebensstil zur digitalen Revolution und der vermeintlichen Perfektion möglich ist etc etc.

Das nächste Kapitel sollte eine generelle Zielsetzung jenes Lebensstils beschreiben. Ein wichtiger Punkt wäre hier das Festhalten und Definieren von drei Grundsätzen:

– das Recht jedes Einzelnen auf wahre Individualität
– das Recht auf unbeschränkte Imperfektion
– das Recht auf Mittelmaß der äußeren Form

Wobei das Recht auf Mittelmaß so zu definieren wäre, daß damit nicht die Substanz, sondern eben die äußere Form gemeint ist. Beispiel: Staffel 2 der Simpsons ist animationstechnisch „schlecht“, übertrifft aber inhaltlich alle anderen Cartoons. Das Blicken hinter die technische Fassade und das Sehen der Substanz ist zu definieren. Als (eine) Begründung für analoge Medien, für alte Computer, für technischen „Sperrmüllschrott“ ist das persönliche Recht auf Imperfektion und äußeres Mittelmaß zu nennen.

Im Folgenden ein Kapitel über „Den Tropfen im digitalen Ozean“ – also Thema Beliebigkeit. Verschwinden von medialen Schätzen und greifbarer (analoger) Materie im gleichförmigen Ozean der allgemeinen Verfügbarkeit. Warum allgemeine Verfügbarkeit die Freude am Suchen und Finden nimmt. Warum auch eine VHS-Kassette ein größerer Schatz sein kann, als Hunderte von medialen Gigabyte. Warum man gerade durch analoge Medien/alte Rechner etc. nötigen Respekt vor der Information als individuellem Gut (neu) erlernen kann. „Think Kilobyte“ als alte-neue/neue-alte Denkrichtung.

Ein philosophischer Sprung hin zur Entstofflichung und Entmenschlichung durch den formlosen Datenozean.

Nach diesen eher theoretischen Kapiteln dann mehr Praxis:

„Von Brechreiz-Pixeln, analogen Mottenkisten, Augenkrebs und Stereo-Opas“ – ein Kapitel über negative Schlagwörter und Indoktrination durch die Medien, Werbung, Konsum etc. Wie man die Argumente durchschaut, wie sie sich oft disqualifizieren. Letztlich ein Leitfaden, um Konsum und Werbetechnik des 21. Jahrhunderts kritisch zu betrachten. „Sowas muß ich mir heute technisch nicht mehr bieten lassen. Wir haben schließlich [aktuelles Jahr einfügen]“ – die Ursprünge dieser Mentalität.

Weiterführend als nächstes Kapitel „Der anachronistische PC-Report“ – eine praktische Betrachtung der großen, bunten, weiten und lehrreichen Welt der Rechner und PCs unterhalb der Pentiumschwelle. Workshop: wir besorgen uns einen 386er/486er und machen was daraus. Betrachtung des Slogans „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“ im Computerbereich. PC-Computing 1994 im kritischen Vergleich zur Moderne. Vertiefung des Themas „Think Kilobyte“ mit weiteren praktischen Beispielen.

Als eigenes Kapitel oder Unterkapitel zu obigem eine Betrachtung des modernen Webs. Verlust von Individualität im Web zugunsten homogener Einfachkeiten. Niedergang des Usenet. Webzwonull = Heilsbringer = Webdemokratie? Wie kann es Webdemokratie sein, wenn der Zugang abhängig ist von aktuellster Software, vom Aufrüsten und von neuer Technik? Ein Plädoyer für das Web 1.0.

Das Film- und Audiomedienkapitel. Warum man den wahren Filmkenner (nicht) an seiner DVD-Sammlung erkennen muß. Ein paar Kritiken aktuellen Filmschaffens. Klassische/unbekannte Schätze. VHS-Kollektionen, die die Werbung gerne verschweigt. Philosophische Betrachtung: was macht ein mediales Werk zur Kunst? Warum und wie berührt es uns? Was hat das letztendlich mit der Technik der äußeren Form zu tun? Spezial: Buster Keaton und Jacques Tati – die großen Zeitgeistkritiker ihrer Dekaden und was sie uns noch heute sagen können. Spotlight auf „The Navigator“, „Mon Oncle“ und „Playtime“.

In vielen Bereichen sollte obiges ein Kapitel sein, daß von einer praktischen Warte aus wieder auf das obige Thema vom Tropfen im digitalen Ozean (und der Rettung dieses Tropfens) zurückgreifen sollte.

Als eigenes Kapitel oder Unterkapitel: „Radio Days“. Persönliche Ode an das Röhrenradio Philips Saturn 563 (mit Überleitung zu einer philosophisch-historischen Betrachtung des Mediums.) „The Sound of Silence“ – vom Tag, wenn alle Sender digital geworden sind und die Radios von Generationen in die Leere lauschen.

Der Retro-Konsum. Ein kleines Kapitel darüber, wie mit vermeintlicher Nostalgie Konsum gemacht wird und wo der Unterschied zur ernsthaften Betrachtung des Themas liegt. Nicht wehmütiger und vermarktbarer „Rückblick“, sondern Erkenntnis einer Philosophie als Devise.

Zum Ende hin eine Betrachtung der Frage: warum diese Ablehnung des aktuellen Jahrzehnts bzw. Jahrtausends? Gab es nicht immer Leute, die über Fortschritt und Veränderung genörgelt haben? Waren es nicht stets die ewig Gestrigen, die die Welt aufgehalten haben? Warum sollte man Kritik an der aktuellen Zeit überhaupt ernst nehmen? Was ist mit dem Fortschritt in Wissenschaft, in Medizin, in der Technik etc., der Menschen hilft? Betrachtung der Fragen und Diskurs.

Aufstellung einer Theorie zum realen Fortschritt (der oft auf subtiler Ebene stattfindet) im Vergleich zu einer bunten „Realität“ und dem Zeitgeist dieses 21. Jahrhunderts bisher. Können „nostalgische“ Ideen sogar eine bessere Grundlage sein, subtile Nuancen des realen Fortschritts zu erkennen und zu schätzen? Rückgriff zum PC-Kapitel als Beispiel: warum jeder Prozessor Respekt verdient.

Ein Abschlußkapitel: wohin von hier aus? Ein leicht dystopischer Ausblick auf eine Zukunft, in der die drei obigen Grundsätze einer digitalen Perfektion und Beliebigkeit untergeordnet worden sind. Als Gegenentwurf eine alternative Zukunft mit Fortschritt, aber auch mit Respekt für die Ursprünge, mit Respekt für Daten, Medien, Imperfektion. Wohin nun? Schlußphilosophie. Ende.

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Von Chris Pfeiler

on allen Retro-Schreibern bin ich wohl derjenige, der das Thema am Persönlichsten vertritt. Ich habe privat keinen digitalen Lifestyle im modernen Stil, also kein Handy, iKram oder aktuelle Rechner. Viele Leute finden das zum Haareraufen und würden mich gerne „missionieren“, ich finde aber, daß einem ein sog. veraltet-analoger Lebensstil viele Ideen und Perspektiven vermitteln kann.