Worüber ich mir wieder etwas Gedanken gemacht habe, ist über den Unterschied zwischen sogenanntem „Retro-tum“ in den 1990ern und sogenanntem „Retro-tum“ heutzutage. Auf den kürzesten Nenner gebracht, ist der IMO grundlegende Unterschied wohl jener, daß es früher (gerade im digitalen Bereich) doch eine Randerscheinung war, der der Markt eher irritiert gegenüberstand, während es heutzutage ein allzu kalkuliertes Zielgruppenschema geworden ist, daß derart in den Markt integriert wurde, daß echte „Opposition“ oft kaum mehr sichtbar ist. Früher waren es die Leute, die man niemals in den modernen Computerläden sah, und die ihre Software auf dem Flohmarkt gekauft haben, heute sind es Kunden für ein etabliertes Marktsegment.

Wenn man sich Vorworte, Artikel, Leserbriefe, Clubgesuche etc. in Zeitschriften wie der klassischen GO64 oder dem CF ansieht, dann drehte sich das Zugehörigkeitsgefühl und die Motivation oft darum, daß man eine „Anlaufstelle“ suchte bzw. eine Bestätigung, daß man nicht der einzige (und letzte) ist, der diese oder jene Form von „Sperrmüllschrott“ noch gut und erhaltenswert findet. Es ging einfach darum, daß man den spottenden Kumpels, die einen achselzuckend gefragt hatten, warum man denn den Uraltdreck nicht endlich auf den Müll schmeisst, entgegenhalten wollte: „Seht her, es gibt noch mehr wie mich. Wir sind doch viele…“

Irgendwann wurde es aber soviele bzw. wurden diese so öffentlich, daß sich der Markt und dessen Strategen dachten, daß man diese Käuferschicht kalkuliert integrieren muß. Und das war in gewisser Weise auch der Anfang vom Ende so mancher Unabhängigkeit und so manch individueller Idee zum Thema Zeitgeist. Heutzutage gilt es als völlig normal, sich z.B. bei Facebook anmelden zu müssen, um Retro-Themen in einer hippen Community zu besprechen. Auf mich wirkt das irgendwie als etwas irritierende Aufforderung, einen persönlichen Non-Konformismus doch bitte per etabliertem Standardkanal mittels etablierter Standardsoftware zu betreiben.

Auch in die Art der Berichterstattung floß der Wechsel von der Randgruppe zur Zielgruppe deutlich mit ein. Wie schon an anderer Stelle geschrieben, verlagerte sich der Fokus der Berichte häufig von handfesten Themen z.B. der Art „Warum auch der alte Rechner vieles kann, wofür man euch gerne eine aufgemotzte Wintel-Kiste verkaufen würde…“ hin zum emotionalen (und unverfänglicheren) „Ohne modernen Windows-PC und Smartphone geht fast nichts mehr, aber auch dort kann man das wohlige Kindheitsgefühl retromäßig emulieren und die guten alten Zeiten im modernen Ambiente hochleben lassen…“ Und jeder ist glücklich.

Hier mal ein fiktives und satirisch eventuell etwas überzeichnetes Beispiel für einen Artikel mit Retrothema, wie man ihn eventuell heutzutage in einer Zeitschrift finden könnte. Wäre ich ein moderner Marketingfuzz und müsste Kommerzretro betreiben, dann würde ich einen solchen Artikel (wenn auch weniger plump) wohl in etwa so angehen:

„Wer erinnert sich nicht gerne daran, wie er damals in den 80er Jahren von der Schule nach Hause kam. Schnell die Hausaufgaben gemacht, denn schon warteten die Kumpels vor der Tür. Eine Runde Paperboy auf dem Commodore oder dem Atari war angesagt. Wie im Flug ging ein wunderbarer Nachmittag im Wettstreit vorüber, bis man die Gewissheit hatte, wieder als Bester im Highscore zu stehen. Ein wohliger Schauer läuft einem über den Rücken, wenn man daran denkt, wie es war, und was einem die lustigen Pixelmännchen bedeutet haben. Der erste Job in den Ferien, der erste Urlaub ohne Eltern, der erste Kuss auf dem Pausenhof und Paperboy auf einem warm flackernden Monitor. Hach, das waren Zeiten, als man noch Freude an 64 KB hatte und unabhängig sein konnte. Übrigens, Paperboy ist wieder da – jetzt in der XTreme 64-Bit HD Remake Steel Edition. Einfach hier klicken, im Huppifluppi-Network mit persönlichen Daten anmelden, beim sympathischen Publisher mit Anzeigencode registrieren, und die geile Demo sofort als PremiumCustomer RetroSupreme downloaden (ca. 84,5 GB). Und schon ist auch das warme Gefühl wieder da. Fast so wie damals an jenen sonnigen Nachmittagen nach der Schule…“

Hört noch irgendwer die Nachtigall trappsen? ;-)

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Von Chris Pfeiler

on allen Retro-Schreibern bin ich wohl derjenige, der das Thema am Persönlichsten vertritt. Ich habe privat keinen digitalen Lifestyle im modernen Stil, also kein Handy, iKram oder aktuelle Rechner. Viele Leute finden das zum Haareraufen und würden mich gerne „missionieren“, ich finde aber, daß einem ein sog. veraltet-analoger Lebensstil viele Ideen und Perspektiven vermitteln kann.

5 Gedanken zu „Von Randgruppen zu Zielgruppen“
  1. Da sind definitiv zwei Parteien im Spiel: Zum einen der Spieler, der sich nach dem oben beschriebenen und im Zusammenhang mit heutigen Games oftmals vermissten Gefühl sehnt. Zum andern der Produzent/Publisher/Developer, dessen… sagen wir einmal „Aufgabe“ (besser wohl: erfolgversprechendes Vorgehen) es ist, Bedürfnisse zu befriedigen (nachdem er sie, sofern noch nicht vorhanden, geweckt hat).
    Kurzum: Wir alten Säcke vermissen etwas. Es waren sicher nicht die alten Spiele allein. Wer setzt sich derzeit nicht alles mit der Frage nach der Herkunft eben dieses Zaubers auseinander…
    Auch wir tun das, als Developer mit unserem Old-School-Rollenspiel „Days of Dawn“. Ganz egoistisch, ganz eigennützig. Wir vermissen es nämlich auch, dieses Gefühl.

  2. Ehrlicherweise muss gesagt werden, dass die Kommerzialisierung des „Retro-Tums“ kein neues Phänomen ist. Insbesondere in Japan war/ist die Zweitverwertung von Franchises seit jeher an der Tagesordnung. Aber ich teile Deine Meinung, dass die Kommerzialisierung von „Retro“ in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Heute gilt ja quasi alles als Retro, was nicht in Dreiecke zerlegt werden kann. Verwunderlich ist die Sache aber kaum. Denn wie Du sagst, haben findige Entwickler diese Marktlücke längst erkannt. Der ursprüngliche Gedanke von Retro, den ich hier vorschlagen will, dass nämlich alte Konsolen/Computer ihren Zenit der Möglichkeiten noch nicht überschritten haben und dass es sich lohnt weiter zu forschen und aktiv daran teilzuhaben/mitzuarbeiten, wird in der derzeitigen Logik ad absurdum geführt. Es findet keine Beschäftigung mit dem eigentlichem Medium statt, sondern nur die Reproduktion der Reproduktion der Reproduktion usw. die im Kern nur noch wenig mit der ursprünglichen Idee zu tun hat. Gott sei dank gibt es aber noch Menschen, die sich darum sorgen und Fragen stellen – von daher sind wir nicht allein ;-)

  3. Interessante Gedanken, aber ich finde mich in keiner der beiden von Dir definierten Gruppen wieder.
    Mich interessiert die Heimcomputer- und Konsolentechnologie der 70er, 80er und 90er Jahre unter dem Gesichtspunkt, dass ich die Spiele, die auf ihr liefen, als Kulturgut ansehe. Der Aspekt, dass ich meine Kindheit mit ihnen verbracht habe spielt – untergeordnet – sicher auch eine Rolle, ist aber nicht die Entscheidende daran.

    Vielmehr interessieren mich alte Spiele, wie mich zum Beispiel auch alte Filme interessieren. Die Spiele des Atari VCS sind meines Erachtens durchaus vergleichbar mir Stummfilmen der 1920er Jahre. Die Produktionsmittel und die Technologien waren begrenzt, aber das bedeutet ja nicht, dass Moderne Zeiten ein schlechter Film ist und in seiner symbolhaften Überhöhung ist Frogger heute ein Spiel, aus dem sich eine ganze Kulturtheorie bezüglich Ökologie und Zivilisation vs. Natur basteln lässt.

    Ich würde mittlerweile den Begriff Retro deshalb eher vermeiden, weil sich für meinen Geschmack zuviel einer anekdotischen hab-ich-früher-auch-gespielt und ach-ist-das-schön-trashig Haltung darin befindet, die mich gar nicht interessiert.
    Weder bin ich der Meinung das man alte C64 Spiele nur im betrunkenen Zustand ertragen kann und dann auch nur, weil man sich darüber lustig macht, noch interessiert es mich zum hundertsten Male zu lesen, wie sich Autor XY als einziger in seiner Klasse mit einem Schneider CPC als Außenseiter vorkam und heimlich am Wochende ins Nachbardorf geradelt ist um in der Kneipe Donkey Kong zu spielen.

    Mich interessiert vielmehr warum man bestimmte Spiele heute noch spielen kann, denn alles Anekdotische stirbt mit dem letzten Zeitzeugen und wenn niemand mehr da ist, der River Raid als es neu war gespielt hat und niemand danach einen Grund gefunden hat warum das Spiel auch heute noch interessant ist, dann wird River Raid in Zukunft vergessen sein, genau wie die Geschichte des Videospiels an sich.
    Wenn das passiert, dann haben Spiele es als Kulturgut nicht anders verdient, manche Kulturgüter verschwinden halt.
    Ich bin der Meinung Spiele gehören nicht dazu und der Retro-Kult ist nur ein hässlicher Auswuchs, aber die Zukunft wird zeigen, ob dem so ist.

  4. Ich schließe mich zu großen Teilen der Meinung von Christian Keichel an. Wenn ich alte C=64 Spiele heute wieder hervorkrame, beobachte ich aufmerksam, inwiefern sie wirklich zeitlos sind, oder furchtbar schlecht gealtert. Es gibt ja beides.

    Retro hat für mich auch nichts mit Skepsis gegenüber neuen technischen Entwicklungen zu tun, oder sich diesen zu verweigern. Womit ich meine alltäglichen Aufgaben erledige, darüber entscheidet einfach die aktuell verfügbare Technik und ihr Kosten/Nutzen Verhältnis. Da mich auch aktuelle PC-Spiele sehr interessieren, habe ich sowieso einen aktuellen Gaming-PC. Darum surfe ich auch mit diesem PC etc., der steht ja eh schon da. Die austauschbaren Komponenten eines PC sind für mich ohnehin nur „seelenlose“ Einzelteile. Darum findet man bei mir zu Hause auch keine alten PCs mit alten Windows Versionen.

    Original C=64 oder AMIGA Hardware hingegen ist für mich auch ein Stück Hardware-Kulturgut. Neben Spielen als Kulturgut ist es ansonsten noch der „sportliche“ Wettbewerb der Programmierer, Grafiker und Musiker, der mich z.B. am C=64 reizt. Und die sich daraus ergebende Faszination, die Hardware bis ins letzte Bit auszureizen.

    Als Vehikel für „Non-Konformismus“ hab ich das ganze niemals gesehen. Außenseiter war man ja schon, wenn man vor dem C=64 „zu viel“ Zeit verbracht hat, als die Kiste noch top-aktuell war. Ob sich auf Facebook irgendwelche Leute zu Retro-Gruppen zusammenschließen, ist mir herzlich egal, daß kriege ich mangels Facebook Account gar nicht mit. Meine Anlaufstellen sind die CSDB, Pouet, RGCD, oder hier auch mal das Retro-Magazin. Wobei man daran schon merkt, daß mich die technische Seite einfach mehr interessiert als die Meta-Diskussion darüber, was „Retro“ denn nun überhaupt sein soll.

    P.S: ARGH Euer Captcha System macht mich wahnsinnig, das sagt mir ständig, ich hätte die Icons falsch gedreht… irgendwann klappt’s dann (Opera Browser)

  5. Ohne Captcha gibts leider zu viel Spam, damit zu viel Arbeit, die nicht in den Content geht und damit weniger Content … und auch wieder Beschwerden ;-)

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